Alles wird sich gendern
Video Glottisschlag von Carolin Kebekus
Zum Thema geschlechtergerechte Sprache wurde viel publiziert, auch aus Sicht der Barrierefreiheit. Gendergerechte Sprache zu verwenden ist keine Verpflichtung, sondern ein Versuch alle Menschen miteinzubeziehen. Über die Sinnhaftigkeit kann man streiten. In den Barrierefreiheits- / Behinderten-Communities gibt es keine ganz eindeutige Empfehlung. Es gibt auch hier Befürworter:innen und Gegner:innen. Die offiziellen Stellen wollen niemanden diskriminieren. Mangelnde Barrierefreiheit ist kein schlüssiges Gegenargument.
Warum Gendern sinnvoll sein kann
Nicht alle Menschen fühlen sich automatisch mitgemeint, wenn für Personenbezeichnungen nur die männliche Form (das generische Maskulinum) verwendet wird. Wird nur die männliche Form genannt, stellt man sich in der Regel auch eher einen Mann vor. Fragt man Sie z.B. nach Ihrem Lieblingsschauspieler, wird Ihnen eher zuerst ein Mann einfallen. Frauen und ihre Leistungen, etwa in Wissenschaft und Kultur, geraten schneller in Vergessenheit.
Das ursprüngliche Ziel von gendergerechter Sprache, die Leistungen von Frauen sichtbarer zu machen und damit auch der ungleichen Bezahlung von Frauen und Männern entgegenzuwirken, ist gegenüber identitätspolitischen Forderungen nach Anerkennung von Diversität in den Hintergrund geraten.
Frühere Genderzeichen wie Binnen-I oder Schrägstrich kommen nun kaum noch vor. Im Moment sind Stern * und Doppelpunkt : die gängigsten Genderzeichen. Die nun verwendeten Sonderzeichen sollen auch nichtbinäre Menschen, die sich nicht klar einem Geschlecht zuordnen, miteinbeziehen.
Wenn in einem Text Personenbezeichnungen mehrfach vorkommen, ist es praktischer die verkürzte Paarform mit einem Genderzeichen zu schreiben, als die männliche und weibliche Form auszuschreiben, also Mitarbeiter*innen oder Mitarbeiter:innen oder Mitarbeit_innen statt Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
In der Einzahl (im Singular) wird es, im Deutschen jedenfalls, etwas kompliziert mit Artikeln und Endungen. In der Mehrzahl (im Plural) funktionieren Genderzeichen meist, wenn auch nicht immer, gut.
Eine pragmatische Herangehensweise ist zu empfehlen und sprachliche Verrenkungen um genderneutrale Begriffe zu finden, wie z.B. Besuchsperson für Gast, sind nicht hilfreich.
Aussprache und Vorlese Software
Ausgesprochen werden Genderzeichen nicht. Es wird nur durch eine kurze Sprechpause, wie bei zusammengesetzten Wörtern (also wie bei Sprech-Pause), verdeutlicht. Der Fachbegriff dafür ist Glottisschlag. Vorlesesoftware hält sich nur zum Teil an diese Vorgabe, bei Screenreadern hängt es auch von der individuellen Konfiguration ab. Screenreader Nutzer:innen müssen mit den Genderzeichen umgehen.
Kein einheitliches Verhalten beim maschinellen Vorlesen
Jedes eingefügte Sonderzeichen oder Satzzeichen hat Nachteile beim maschinellen Vorlesen. Screenreader für Blinde und andere Vorlesesoftware, auch Sprachausgaben von Speech-to-Text Software, Siri oder Cortana…, verhalten sich derzeit noch unterschiedlich und auch je nach Ausführlichkeitseinstellungen beim Lesen von Satzzeichen unterschiedlich.
Die gängigen Screenreader wie JAWS, NVDA, Narrator unter Windows, VoiceOver am MAC und iPhone, Talkback auf Android Handys liefern also keinen einheitlichen Output. Stern und Unterstrich werden nicht immer, aber häufig störend vorgelesen, die Sprechpause beim Doppelpunkt ist nicht immer, aber häufig zu lang, beim Binnen-I fehlt sie teilweise.
Taner Aydın hat Sprechbeispiele von gängigen Sprachausgaben systematisch analysiert. Stand April 2021 ist aber schon nicht mehr 100% aktuell. Das Verhalten von Sprachausgaben ändert sich auch je nach verwendeter Version.
Gewünschtes Verhalten
Das gewünschte Verhalten für assistive Technologien wäre, Sonder- und Satzzeichen im Wortinneren nicht auszusprechen und eine kurze Sprechpause wie bei zusammengesetzten Wörtern zu machen, so wie es auch bei Spiegelei (Spiegel-Ei) oder Rübenderbrüssler (Rüben-Derb-Rüssler) wünschenswert wäre.
Mitarbeiter:innen, Mitarbeiter*innen, Mitarbeiter•innen, Mitarbeiter_innen, MitarbeiterInnen, Mitarbeiter/innen, Mitarbeiter(innen), Mitarbeiter/-innen oder was immer noch an Varianten auftauchen mag in einer liberalen Gesellschaft, sollte von allen Sprachausgaben gleich vorgelesen werden – mit Glottisschlag, also kurzer Sprechpause, ohne Vorlesen des Sonder- oder Satzzeichens.
Aussprachen wie MitarbeiterDoppelpunktinnen, MitarbeiterSterninnen, MitarbeiterMittelpunktinnen, MitarbeiterUnterstrichinnen, MitarbeiterSchrägstrichinnen, MitarbeiterKlammerlinksinnenKlammerrechts usw. sind kontraproduktiv.
Screenreader Nutzer:innen können sich die Ausführlichkeitseinstellungen zwar individuell einstellen, sie sollten Sonderzeichen oder Satzzeichen fürs Gendern aber nicht deaktivieren oder aktivieren müssen, weil diese auch andere Funktionen haben.
Der Stern * wird auch verwendet als Pflichtfeldkennzeichnung und in Passwortfeldern in Formularen, als Kennzeichnung von Leerstellen wie bei f*** , für ausgeschriebene Emoys *grins*, ev. als Platzhalter bei der Suche u.a. Der Unterstrich wird zur Markierung von Leerzeichen, da wo sie nicht erlaubt sind, wie in E-Mail Adressen oder Benutzernamen, benötigt. Es ist also nicht sinnvoll, diese Sonderzeichen generell zu unterdrücken. Manche Screenreader Nutzer:innen wollen sich auch Doppelpunkte grundsätzlich vorlesen lassen, also nicht unterdrücken, weil sie ja eine typographische Funktion haben.
Fazit
Stern oder Doppelpunkt
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV), empfiehlt (Stand März 2021) das Sternchen zu verwenden, weil es laut Veröffentlichungen des Deutschen Rechtschreibrates die am häufigsten verwendete Kurzform sei und so dem Wunsch nach einem Konsenszeichen am nächsten komme. Zudem sei davon auszugehen, dass Doppelpunkt und Unterstrich für sehbehinderte Menschen visuell schlechter erkennbar sind als das Sternchen.
Die Sprechpause beim unterdrückten Doppelpunkt ist teilweise überlang – wie am Ende eines Satzes, weil er ja auch ein Satz-Endzeichen ist. Das spricht gegen ihn. Der Vorteil vom Doppelpunkt als gängiges Satzzeichen ist aber, dass er in der Regel bei unveränderten Standardeinstellungen NICHT vorgelesen wird. Er ist also am wenigsten störend als Genderzeichen in allen Screenreadern und Sprachausgaben. Niemand muss an der Konfiguration herumschrauben.
Auf Bildschirmtastaturen ist er zum Schreiben schneller erreichbar als der Stern. Apple als großer Player favorisiert nun anscheinend den Doppelpunkt und interpretiert ihn als Glottisschlag im Wortinneren. Auch visuell stört der Doppelpunkt wenig.
Die grundsätzliche Debatte, ob überhaupt und welches Zeichen sich durchsetzt, wird nicht von der Behinderten-Community entschieden werden. Die Software Firmen sind gefragt zu einer einheitlichen sinnvollen Lösung zu kommen.
Leichte Sprache und Gendern
Auch zur Verständlichkeit von gendergerechter Sprache für Zielgruppen, die Leichte Sprache brauchen, gibt es Forschung, z.B. eine empirische Studie, die von capito (Anbieter für Leichte Sprache Übersetzungen) in Auftrag gegeben und vom Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaften an der Universität Graz durchgeführt wurde.
54 Personen mit Lernschwierigkeiten und Deutsch Lernende beurteilten die Verständlichkeit von Texten in verschiedenen Sprachniveaus (A1, A2, B1) mit verschiedenen Formen des Genderns.
Die Ergebnisse zeigen, dass die teilnehmenden Personengruppen neutrale Bezeichnungen, wie „Team“ oder „Personal“ und die Nennung beider Geschlechter, wie „Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“ gut verstehen konnten. Partizip-Formen wie z.B. „Mitarbeitende“, schnitten nicht gut ab.
Andere Gender-Formen, wie zum Beispiel das Binnen-I oder der Gender-Doppelpunkt, schnitten je nach Schwierigkeitsstufe unterschiedlich ab. Ist eine neutrale Bezeichnung nicht möglich, rät die Studie zur Verwendung des Gender-Sterns. Dieser wurde in den Sprachkompetenzstufen A2 und B1 sofort und in der Stufe A1 nach einer Erklärung gut verstanden.
Für mehr Information
Mit Fokus Barrierefreiheit
Genderinklusive Sprache & Barrierefreiheit
Informativer Artikel und Sprechproben
taner-aydin.dev/a11y-up/genderinklusive-sprache-und-barrierefreiheit/
Stellungnahme des DSBV
www.dbsv.org/gendern.html
Leicht verständliche Sprache – gender-fair!
Studie von capito zum leicht verständlichen Gendern, Graz 2023
Generelle Informationen zu gendergerechter Sprache
Artikel im Duden zum Thema Gendern
www.duden.de/rund-um-die-sprache/sprache-und-stil/Gendern
Gendern im Journalismus
www.genderleicht.de/
Vorschläge für alternative gendergerechte Begriffe
geschicktgendern.de/
Sprachwörterbuch sprachnudel.de
www.sprachnudel.de/gendersprache
Genderneutrale Begriffe
www.buchstaben.com/gender-woerterbuch
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